von Christiane Meyer-Stoll, 2011

Die Fotografie einer Straßensituation, in leuchtendes Orange getaucht, lädt uns auf dem Ankündigungsplakat zur Ausstellung Weisse Wände? von Ovidiu Anton in der galerie5020 ein. Geparkte Autos, ein leerer, enger „Bürger“-Steig, eine Wand im rechten Vordergrund, auf die mit schwarzer Farbe gesprüht „Weisse Wände?“ zu lesen ist. Ovidiu Anton hat dieses Graffiti – wie die drei weiteren hier in Tischvitrinen gezeigten – auf der Straße gesehen, festgehalten und transformiert. Weisse Wände? stammt aus Wien. Das Kennzeichen eines der Autos lässt darauf schliessen.

Graffiti ist ein Mittel, um aus der Unsichtbarkeit in eine Sichtbarkeit zu treten. Es ist ein Ausdruck der eigenen Stimme. Der Akt der Handlung findet im Verborgenen, oftmals im Schutz der Dunkelheit statt. Es ist ein illegaler Akt, sein Akteur geht ein Risiko ein, doch das Bedürfnis, sich zu artikulieren scheint zu überwiegen. Häufig steckt in der Geste verborgen auch Aggressivität. Diese Handlung gilt als Akt des Angriffs, als Vandalismus an öffentlichem oder privatem Eigentum, der sich zumeist an Wänden, Mauern oder verschlossenen Türen äußert. Aus der Anonymität richtet er sich gegen eine Anonymität – gegen Exklusion, gegen den Ausschluss aus Lebensbereichen, gegen Bereiche einer nicht unbedingt fassbaren Staatsgewalt. Die in den Vitrinen gezeigten Arbeiten auf Papier haben ihren Ursprung teils in Frankreich, im Speziellen in Marseille, einer Stadt, in der die Brisanz einer vielmals aus migrantischem Hintergrund stammenden „Unter“-Schicht besonders eklatant ist. Pierre Bordieu, der bekannte französische Soziologe, beschreibt die Situation dieser Schicht (Bordieu sieht die Klassifikation in Schichten – Ober-, Mittel- und Unterschicht – äußerst kritisch; sein Streben ist, die herkömmliche Vorstellung von Klasse aufzuheben) mit dem Begriff Notwendigkeit, denn ihr Leben sei davon bestimmt, die Existenz zu sichern. Miserable, entwürdigende Lebensbedingungen ohne Zukunftsaussichten sind am Rande der Gesellschaft selbstverständlicher Teil des Alltags. In den Graffitis verbirgt sich unterschwellig ein Aufbegehren gegen die sich wiederholende Reproduktion einer Ungleichheit, die eng verknüpft ist mit kulturellem und ökonomischen Kapital, um auch hier im weitesten Sinne Pierre Bordieus Gedanken zu folgen. Die anonyme Stimme setzt ein Zeichen im öffentlich-sichtbaren Raum. Dabei zeugen die Schriftzüge von einer spontanen Geste – doch kommt so eine Spontaneität nicht aus dem Nichts, sie erwächst aus Erfahrung – aus ungehörter Erfahrung?

Die Tristesse der Straße wird mit einer Schicht leuchtend aufgedruckter Farbe zum Pulsieren gebracht. Das Orange erlaubt den Ort wie durch einen Filter zu sehen, einen Filter, der in der Schwarz-Weiß-Fotografie dazu dient, Kontraste zu verstärken. Ovidiu Antons Arbeiten schärfen den Blick.

Weisse Wände? Mehrere Assoziationen dazu tauchen bei mir auf: Zum einen – Unschuld – saubere Hände – seine Hände in Unschuld waschen – Sauberkeit der Fassaden, aber was steckt dahinter? – und zum anderen im Bereich der Kunst – der viel besprochene „White Cube“. Brian O’Doherty widmete dem weißen Würfel ein ganzes Buch; er dient im Besonderen dazu, seit den 1920er Jahren zeitgenössische Kunst im farbneutralen, weißen, architektonischen Raum zu präsentieren. Dieser „white coloured“ Raum wurde immer wieder in Frage gestellt, Räume außerhalb dessen wurden beispielsweise von einer Anzahl von Künstlern der 1960er Jahre aufgesucht, oftmals waren es Fabrikräume, mit ihrem von Arbeit zeugenden Charakter und die Rohheit des Ortes, eng verknüpft mit dem Wunsch, Kunst und Leben stärker miteinander zu verbinden. Die Frage, ob dieser Ansatz nicht grundsätzlich zum Scheitern verurteilt ist, da die Mechanismen der Vereinnahmung durch den Markt letztlich stärker sind, schwingt dabei im heutigen Selbstverständnis mit. Weisse Wände? – Was mag es im Tieferen meinen? Ein Ausschluss der Straße aus dem Betriebssystem Kunst?

Rette sich wer kann! – Rèvolte – Fuck the system ! Spontaner Ausdruck aus der Anonymität im Licht der Öffentlichkeit. Ovidiu Anton hält ihn fest. Erst als Fotografie, dann als Schriftzug auf einem Blatt Papier, so auch Weisse Wände? Strich für Strich umschließt er die ihrem Kontext enthobenen Parolen mit Leuchtfarbe. Leuchtfarben finden sich im Alltag häufig als Markierung, um Aufmerksamkeit auf Gefahrenmomente zu lenken. Ovidiu Anton setzt mit seinen grellen Strichen der spontanen, schnellen und flüchtigen Geste des Graffitis die zeitintensive Bewegung eines kontinuierlichen Prozesses entgegen. Strich um Strich. Strich um Strich. Die spontane schnelle Geste der Markierung, der Schriftzug, wird zur Leerstelle.

Alighiero Boetti (Ich beziehe mich hier auf ihn, weil seine Kugelschreiber-Arbeiten eine große formale Nähe zu den Leuchtbildern Ovidiu Antons aufweisen). Alighiero Boetti bevorzugte es, mit minimalen Mitteln zu arbeiten; in einer Reihe von Werken arbeitete er einzig mit Karopapier und Bleistift. Der erste Schritt war die Setzung einer Regel. Dieser folgend, setze er Linie um Linie, die Karos der Blätter nach verschiedenen Systemen umfahrend. Zum einen bedeutete der Verzicht auf eine Motiverfindung für ihn Freiheit in seiner Ausführung, zum anderen war es für ihn ein immerwährendes Wagnis, eine Herausforderung. Mit enormer Geduld, die ihn an die Grenzen seiner eigenen Psyche vorstießen ließ. „Ich könnte eine Psychoanalyse aus all dem machen: In diesen Quadraten ist alles Erdenkliche passiert, ich habe Schreckliches und Wunderschönes hineingeschrieben.“1 Und zugleich spricht Boetti vom elementaren Aspekt der Zeit: „Ja, die Zeit ist etwas Grundlegendes, das Grundprinzip von allem. Darüber ist gar nicht viel zu sagen, es ist einfach die Basis: bei den [...] Quadraten geht es immer um die Zeit, das einzige, was wirklich magisch ist, diese unglaubliche Elastizität. Alles hat seine eigene Zeit.“2

Die Leuchtkraft der Blätter wird mit der Zeit verblassen. Für Ovidiu Anton gehört dieser Prozeß des Verblassens als wesentliches Element dazu: „Ich nehme Leuchtstifte bewusst zur Farbgebung der Neonfarben meiner Bilder. Diese Farben sind ein wichtiger Bestandteil meines Umkehrprozesses und der Ent-Kontextualisierung politischer Slogans. Mein Interesse liegt an der Geste der Entpolitisierung vieler politischer Zeichen (im semiotischen Sinne) durch die Popkultur.“ Ich denke da zum Beispiel an die Kufiya [Palästinensertuch], welche aufgrund des Nahostkonflikts dort und überall anders auf der Welt ein Zeichen für den Kampf für die Unabhängigkeit Palästinas symbolisiert. Dann gibt es zum Beispiel (mehr oder weniger) zeitgenössische und unpolitische Populärkulturen wie die Krocha-Bewegung in Wien (http://de.wikipedia.org/wiki/Krocha), welche sich solche politischen Symbolgehalte aneignet und in Mode-Accessoires entpolitisiert der Öffentlichkeit wiedergibt. Diese Krocha-Palitücher sind aber nicht schwarz/weiß oder rot/weiß, sondern schwarz/neongelb oder schwarz/neonpink. (http://jpgmag.com/photos/703601). Diese Art von Entpolitisierung ist ein zentraler Punkt in meiner Arbeit mit den politischen Graffitis, weil ich denke, dass früher oder später viele politische Slogans von der Straße auf T-Shirts von genau solchen UNPOLITISCH motivierten Jugendlichen landen werden (von Spaßkulturen wie zum Beispiel der Krocha). Diese Bewegungen kommen und gehen. Die Neonfarben wurden von vielen Bewegungen getragen. In den 1980er Jahren zum Beispiel vom Aufkommen des Pop, in den 1990er Jahren von der Techno-Kultur … Manche sind politisch – manche weniger politisch motiviert. Aber auf jeden Fall verblassen sie ganz schnell.“

Es ist die Entleerung der Form, die Vereinnahmung und die oftmals damit einhergehende Entleerung von Inhalten, die schnelllebige Flüchtigkeit, der Ovidiu Anton nachgeht. Dem gegenüber steht auf einem großen Banner in druckreifer Schrift, Schwarz auf Weiß: dran bleiben. Ein Motto, welches dem flüchtigen Verblassen, dem spontanen Gestus, der seinen Unmut nur kurzfristig zum Ausdruck bringt, ja wahrscheinlich kann man sagen regelrecht entlädt, entgegensteht. Es gilt vielmehr Ziele, Veränderungen, gesellschaftlichen Wandel mit Kontinuität zu verfolgen, auf dem Weg zu bleiben, dran zu bleiben.

Laufen, laufen, laufen, ins Bild und wieder aus dem Bild. Laufen, laufen, laufen – als sei jemand auf der Flucht – mediale Bilder, die unsere Wahrnehmung prägen, eine Verfolgungsjagd, der Ausschnitt aus einem Krimi? Laufen, weglaufen, die Flucht ergreifen. Ovidiu Anton läuft in Marseille. Vorbei an Orten, die im zentralen Interesse der Öffentlichkeit stehen, an Orten der Peripherie, an markanten Orten, an Unorten, vorbei an Graffitis, vorbei an gläsernen, an abweisend spiegelnden Fassaden, vorbei an Wallfahrtsorten der Religion als auch der Architektur ... Er kondensiert Zeit und Orte, er läuft ... It doesn\'t matter where.

Das Werk Ovidiu Antons besticht ob seiner Präzision. Ausgangspunkt seiner aktionistischen Eingriffe, die er mit Video oder Fotografie dokumentiert und die einen Strang seines bisherigen Werks bilden, ist zumeist ein ortsspezifischer Kontext, gesellschaftliche Fragen und das Thema der Zeit. Seine Eingriffe sind minimaler Art und doch rufen sie Fragen nach gesellschaftlichen Normen und Formen hervor.

Compter 100g de Cumin In einem Geschäft entwendet er eine Tüte mit 100 Gramm Kreuzkümmel (Cumin), um zu Hause Korn für Korn zu zählen. Als dieser Akt vollendet ist, beschriftet er die Tüte mit der genauen Zahlenangabe der darin enthaltenen Körner, verschließt sie sorgsam und führt diese, nach getaner fleißiger Arbeit, in den Warenkreislauf zurück. Eine Handlung, die in unserem von Effizienz geprägtem Verständnis absurd, zwecklos – ja vollkommen zweckfrei – erscheint.

In seiner jüngsten Arbeit entwendet Ovidiu Anton – wie in Veränderung der Länge und Breite eines Straßenabsperrpfostens von 406 x 10 cm auf 265 x 14 cm – in welcher er aus einem Norm-Sicherungsgegenstand, ein abstraktes „Kunst-Werk“ schafft, einen Gegenstand von einer öffentlichen Straßenbaustelle, diesmal eine Europalette. Diese genormte Palette zerlegt er minutiös, wie einen Baukasten, in ihre Bestandteile. Einzelteil um Einzelteil verkleinert er maßstäblich und fertigt eine Mini-Europalette, die er an den Tatort zurücklegt. Originalzustand, Zwischenzustand und Endzustand dokumentiert er fotografisch. Alles absolut akkurat. Mit den verbliebenen Holzresten der Normeuropalette schreinert er vier präzise Bilderrahmen und rahmt damit die Fotografien der drei Zustände als auch die Planungsskizzen. Bei genauerem Betrachten sind in den Rahmen verschiedene Holzarten auszumachen, ebenso sind die vormaligen Nagelspuren erkenntlich, doch sind aus diesen Abfallhölzern der Europalette erstaunlich professionelle Bilderrahmen, Unikate, entstanden. Aus der standardisierten, auf Normen basierenden Europalette ist eine Europalette geworden, die für das System des Warentransports nicht mehr funktionell ist. Sie fällt aus dem System.

Ovidiu Anton befragt Normen, die die Werteordnung in einer Gesellschaft formen, soziale Normen, Standards. Dies betreibt er mit einer austarierten Ökonomie der Mittel (Simon Starlings Basler Beitrag, in dem er eine Holzhütte zu einem Kanu umbaute, mit dem er auf dem Rhein zum Museum für Gegenwartskunst fuhr, um dort das Kanu wieder in eine Holzhütte zurückzuverwandeln und als Ausstellungsobjekt zu zeigen, veranschaulicht eine ähnliche Strategie.) und mit einer Ehrlichkeit, die zu einem Moment von Irritation generiert. Es ist die handwerkliche Präzision etwa im Zerlegen der Einzelteile der Europalette oder die humorvolle, skurrile Spannung von verbotener Tat der Entwendung des Straßenabsperrpfostens in Veränderung der Länge und Breite eines Straßenabsperrpfostens von 406 x 10 cm auf 265 x 14 cm im Kontrast zur Ausführung. Der Tatvorgang wird ebenso minutiös dargestellt. Das Objekt wird entwendet; das Objekt wird mit einer Säge zu Hause seiner leichteren Transportierbarkeit wegen in zwei Teile zerteilt; die Sägespäne werden sorgsam mit dem Staubsauger entfernt. Auf der einen Seite kann darin eine planungsvolle Spurenverwischung gesehen werden, auf der anderen Seite unterläuft diese Handlung in ihrer selbstverständlich erscheinenden Ordentlichkeit die Erwartungen, die mit einem Delikt der Entwendung impliziert werden. Diese Strategie findet ihre Fortführung: Mit zerteiltem Pfosten begibt sich der Täter auf den Weg, den öffentlichen Verkehr nutzend, dabei regulär ein Ticket entwertend, zur Schreinerei, in der er den Pfosten mit ruhiger und konzentrierter Genauigkeit in seinen Maßen verändert und in ein neues rot-weißes Muster / Raster überführt. Wieder den Weg des öffentlichen Verkehrs einschlagend, bringt er den verwandelten Absperrpfosten an seinen ursprünglichen Ort zurück.

Ovidiu Anton dringt an die Grenzen der Legalität vor und zugleich bedient er sich der Codes kultureller Akzeptanz einer gutbürgerlich ausgerichteten Gesellschaft. Um es als Bild zuzuspitzen: Diebstahl und Staubsauger. Diese irritierende Balance von aus der Norm und mit der Norm, von Ernst und Humor, von Funktionalität und Absurdität bewirkt das Spannungsfeld seines Handelns. Dabei gliedert er sich mit seiner Ausstellung sehr gekonnt, um die Regeln des White Cube wissend und sie respektierend, in das Betriebssystem Kunst ein – und doch verbirgt sich darin Sprengkraft: Fuck the system ! – Rette sich wer kann! – Rèvolte. Die Brisanz zu Handeln dürfen wir ernst nehmen. Es gilt: Dran bleiben.



Der Text basiert auf der Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung Weisse Wände? von Ovidiu Anton in der Galerie 5020 in Salzburg am 13. April 2011.

1 Boetti Wien S. 208 2 (Wien 1997, S. 209)